Herr Wallenstein, was war Gegenstand der Entscheidung des EuGH?
Das Urteil ist in einem Rechtsstreit zwischen einer spanischen Gewerkschaft und der Deutschen Bank ergangen. Die Gewerkschaft hatte geltend gemacht, dass Arbeitgeber nach europarechtlichen Regelungen verpflichtet sind, sämtliche Arbeitszeiten ihrer Arbeitnehmer aufzuzeichnen und ein System zur Erfassung der Arbeitszeit zu unterhalten, mit dem die Einhaltung der Arbeitszeitvorschriften überprüft werden können.
Welche Arbeitszeitvorschriften sind damit gemeint?
Zunächst geht es um die europäische Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EWG. Diese schreibt Mindestruhezeiten von täglich elf und wöchentlich 24 Stunden am Stück vor. Vor allem beschränkt sie die wöchentlich zulässige Höchstarbeitszeit auf 48 Stunden.
Und wie hat der EuGH entschieden?
Der EuGH ist der Auffassung, dass der Arbeitgeber zur Einrichtung eines Systems verpflichtet ist, mit dem die von jedem Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit erfasst werden kann. Hierzu müssen die Mitgliedstaaten der EU die Arbeitgeber z.B. durch Gesetze verpflichten. Der Schutz des Arbeitnehmers sei nur mit einem System möglich, mit dem die täglich geleistete Arbeitszeit gemessen werden kann. Ohne ein solches System sei es für den Arbeitnehmer praktisch unmöglich, die tatsächliche Einhaltung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit sicherzustellen.
Gilt das auch in Deutschland und wie ist hier die aktuelle Rechtslage?
Bislang bestand für Arbeitgeber keine allgemeine Pflicht zur Aufzeichnung der Arbeitszeit. Hierzu beinhalten nur verschiedene
Gesetze Aufzeichnungspflichten für spezielle Tatbestände. So muss der Arbeitgeber z.B. nach § 17 Abs. 1 MiLoG die Arbeitszeit sämtlicher geringfügig beschäftigter Arbeitnehmer aufzeichnen. In § 17 Abs. 1 MiLoG ist zwar vorgesehen, dass der Arbeitgeber Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit spätestens bis zum Ablauf des siebten auf den Tag der Arbeitsleistung folgenden Kalendertages aufzuzeichnen hat. Eine konkrete Vorgabe dazu, in welcher Form und vor wie das zu geschehen hat, macht das Gesetz aber nicht. Nach § 16 Abs. 2 S. 1 ArbZG ist der Arbeitgeber verpflichtet, die Überstunden aller Arbeitnehmer zu erfassen. Auch diese Regelung schreibt dem Arbeitgeber aber nicht vor, durch wen und wie die Aufzeichnung erfolgen muss. Das deutsche Recht wird also den Vorgaben des EuGH nicht gerecht. Deshalb dürfte das Urteil weitreichende Auswirkungen im nationalen deutschen Recht haben.
Und was müssen Arbeitgeber jetzt unternehmen?
Klar ist, dass der Gesetzgeber auf die Entscheidung reagieren muss. Er muss das Arbeitszeitrecht entsprechend anpassen. Nicht eindeutig ist aber, ob die Entscheidung durch den Arbeitgeber umgesetzt werden muss. Hierüber streiten die Gelehrten: Teilweise wird angenommen, dass dies der Fall ist. Der EuGH stützt seine Entscheidung nämlich unter anderem auf die Charta der Grundrechte der EU. Diese Grundrechte müssen stets beachtet werden. Andererseits weist der europäische Gerichtshof aber darauf hin, dass es zunächst Sache der nationalen Regierungen ist, die Unternehmen zur Aufzeichnung von Arbeitszeiten zu verpflichten. Deshalb wird auch vertreten, dass es noch keine Pflicht der Arbeitgeber gibt, sämtliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu erfassen. Zu beachten ist auch, dass der Betriebsrat bei der Einführung von Arbeitszeiterfassungssystem zu beteiligen ist.
Welche Maßnahmen können oder müssen Arbeitgeber ergreifen?
Zunächst verfügen viele Betriebe schon über ein Arbeitszeiterfassungssystem. Mit einem solchen System kann die Arbeitszeit schon jetzt zuverlässig, so wie der EuGH sich das vorstellt, erfasst werden. Neu ist allerdings, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, diese Aufzeichnungen auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Es stellt sich auch die Frage, wie Arbeitnehmer die Arbeitszeit erfassen sollen, die nicht tägliche im Betrieb sind, wie z.B. Außendienstmitarbeiter oder Mitarbeiter im Home-Office. Diese Mitarbeiter muss ein Arbeitgeber anweisen, ihre Arbeitszeit aufzuzeichnen. Neben der klassischen Aufzeichnung auf Papier kommt hier der Einsatz von Hilfsmitteln wie Software oder Apps in Betracht. Es ist also möglich, dass der Arbeitgeber die Verpflichtung zur Aufzeichnung auf den Arbeitnehmer delegiert. Zeichnet der Arbeitnehmer die Arbeitszeit selbst auf, ist der Arbeitgeber allerdings aufgrund der Vorgaben des EuGH verpflichtet, diese Aufzeichnungen auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Nur dann ist ein System zur Arbeitszeiterfassung auch wirksam. Die Auffassung des EuGH führt also zu einem erheblichen bürokratischen Aufwand für den Arbeitgeber.
Welche Folgen hätte ein Verstoß gegen die möglicherweise bereits heute bestehende Aufzeichnungspflicht?
Hierzu gibt es gegenwärtig noch keine gesetzlichen Regelungen. Deshalb würde ein Verstoß anders als etwa ein Verstoß gegen die Aufzeichnungspflicht nach § 16 Abs. 2 ArbZG aktuell nach meiner Auffassung nicht zur Verhängung eines Bußgeldes führen. Möglicherweise können aber die Arbeitsgerichte in einem Prozess, etwa wenn dem Arbeitgeber eine Überschreitung der Höchstarbeitszeiten oder eine Missachtung der Ruhepausen vorgeworfen wird, die Auffassung vertreten, dass der Arbeitgeber – wenn er nicht über ein Zeiterfassungssystem verfügt – beweisen muss, dass die Höchstarbeitszeiten und die Ruhepausen eingehalten worden sind.
Ist das Urteil des EuGH der „Tod moderner Arbeitszeitsysteme“ oben? Stichwort Arbeitsrecht 4.0. Es ist ja viel vom Ende
der Vertrauensarbeitszeit die Rede.
Davon gehe ich nicht aus. Denn auch bisher waren die Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes einzuhalten. Das Bundesarbeitsgericht
hat vom Arbeitgeber auch in der Vergangenheit gefordert, dass dieser seinen Betrieb so organisiert, dass etwa der Betriebsrat die Einhaltung der arbeitszeitrechtlichen Regelungen prüfen kann. Das ist also letztlich nichts Neues. Auch nach dem Urteil des EuGH kann deshalb also z.B. Vertrauensarbeit vereinbart werden. Die Arbeitszeit muss jetzt allerdings aufgezeichnet und durch den Arbeitgeber kontrolliert werden.
Wie steht es mit dem Datenschutz?
Der EuGH erwähnt den Datenschutz in seiner Entscheidung nicht. Das Urteil hat aber erhebliche datenschutzrechtliche Auswirkungen, verlangt es vom Arbeitgeber doch die Erhebung, Speicherung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten.

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